- „Die Bibel ist nur von Menschen geschrieben“ –
diesen Satz hört man immer wieder. „Die Bibel ist das Wort
Gottes“ – das glauben auch heute noch viele Christen. „Die Bibel
ist doch voller Widersprüche!“ entgegnen wiederum Bibelkritiker.
Kann man wirklich alles glauben, was in der Bibel steht? Oder muß man
sie interpretieren?
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- Ich selber habe die Bibel schon zweimal am Stück
gelesen, das neue Testament dreimal. Die vier Evangelien und die
Johannesoffenbarung habe ich sogar auf französisch gelesen. Mit
einigen Büchern der Bibel, vor allem den Evangelien, Daniel und der
Offenbarung, habe ich mich sehr intensiv beschäftigt. Und immer
wieder bin ich auf Widersprüche gestoßen, oder auf Dinge, die ich
mir beim besten Willen nicht erklären kann. Und dann gibt es
Christen, die sagen, die Bibel sei Wort für Wort wahr. Wenn ich ihnen
dann einen Widerspruch nenne, erzählen sie mir meistens irgendeine
Theorie, manchmal nachvollziehbar, manchmal nicht. Und wenn alles
nichts hilft, dann heißt es: „Das wird uns Gott alles in der
Ewigkeit offenbaren!“
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- Um der Beantwortung der Eingangsfrage näher zu
kommen, möchte ich zunächst einige Widersprüche aufzählen, die
sich beim näheren Betrachten ganz gut erklären lassen.
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- In der Bergpredigt sagt uns Jesus folgendes (Matthäus
5, 14-16):
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- „Ihr seid das Licht der Welt. Es kann die Stadt,
die auf einem Berge liegt, nicht verborgen sein. Man zündet auch
nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf
einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind. So soll euer
Licht leuchten vor den Leuten, daß sie eure guten Werke sehen und
euren Vater im Himmel preisen.“
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- Ein Kapitel später scheint er genau das Gegenteil zu
behaupten (Matthäus 6, 1-4):
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- „Habt acht auf eure Frömmigkeit, daß ihr die
nicht übt vor den Leuten, auf daß ihr von ihnen gesehen werdet; ihr
habt sonst keinen Lohn bei eurem Vater im Himmel. Wenn du nun Almosen
gibst, so sollst du nicht lassen vor dir posaunen, wie die Heuchler
tun in den Synagogen und auf den Gassen, auf daß sie von den Leuten
gepriesen werden. Wahrlich, ich sage euch: Sie haben ihren Lohn dahin.
Wenn du aber Almosen gibst, so laß deine linke Hand nicht wissen, was
die rechte tut, auf daß dein Almosen verborgen sei; und dein Vater,
der in das Verborgene sieht, wird dir’s vergelten.“
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- Soll man also seine guten Werke zeigen oder nicht?
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- Hier muß man auf die Argumentation schauen: In Matthäus
5 soll man seine Werke zeigen, damit die Leute den Vater im Himmel
preisen. Wenn man aber seine guten Werke zeigt, damit man selber
gepriesen wird, so hat man seinen Lohn dahin. Es kommt also auf die
Motivation an, warum man seine Werke zeigt. Der scheinbare Widerspruch
hat sich aufgelöst.
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- Eine andere, viel schwierigere und tiefgreifendere
Frage ist die Frage nach Gottes „Charakter“:
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- „Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt,
der ist in Gott und Gott in ihm.“ (1. Johannes 4, 16)
- „Schrecklich ist’s, in
die Hände des lebendigen Gottes zu fallen.“
(Hebräer 10,31)
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- Muß man nun vor Gott Angst haben oder nicht?
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- Diese Frage beschäftigt mich mit am meisten. Ich
verstehe es so: Wenn man sein Leben mit Liebe zu Gott, Jesus und
seinen Mitmenschen verbringt, dann darf man sich auf die Seligkeit freuen und wird auch
in diesem Leben von Gott getragen, auch wenn es manchmal vielleicht gar nicht
danach aussieht. Wenn man aber lieblos und egoistisch lebt und Gottes
Gerechtigkeit begegnet, dann ist es schrecklich, in seine Hände zu
fallen.
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- Wenn ein Mensch mir sagen würde, er nähme die Bibel
wortwörtlich und jede Interpretation sei unnütz oder gar falsch,
dann würde ich ihn mit einer der bekanntesten Bibelstellen
konfrontieren: Dem Gebot „Du sollst nicht töten.“ (2. Mose
20,13). Was bedeutet das?
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- - „Das ist doch klar!“ würde er sicher sagen.
„Man darf keinen Menschen umbringen! Wo soll da denn noch etwas
interpretiert werden?“
- - „Moment mal!“ würde ich entgegnen. „Wo steht
denn da etwas von Menschen? Darf ich denn Tiere töten? Ich bin schließlich
Vegetarier!“
- - „Natürlich!“ würde er sagen. „Den
Israeliten wurden doch Tieropfer vorgeschrieben (z.B. 3.Mose 22,
17-33), und selbst Jesus hat ja das Osterlamm gegessen (Matthäus
26,17)."
- - „Nun mal langsam!“ würde ich erwidern. „Die
mußten auch Kriege führen und sogar Gefangene umbringen (5.Mose 20,
10-18)! Und die Todesstrafe gab es damals auch (2.Mose 21, 12-32)!“
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- Da würde er vielleicht in Verlegenheit kommen. Wieso
befielt Gott das Übertreten seiner eigenen Gebote?
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- Meines Wissens nach bedeutet „Du sollst nicht töten“
wörtlich übersetzt „Du sollst nicht morden“. Töten von Tieren
und im Krieg wäre somit erlaubt, auch die Todesstrafe.
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- Allerdings setzt dem Jesus absolute Friedfertigkeit
entgegen: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten
Stein auf sie.“ (Johannes 8,7). Das sagt er denen, die eine
Ehebrecherin „auf frischer Tat“ ertappten (wo blieb nur der
Mann?). Ich bin sicher, Jesus wäre heute wie damals gegen die
Todesstrafe – und auch gegen Krieg. Schließlich hatte er einem
Soldaten, der ihn verhaften wollte, das Ohr, das ihm ein Jünger
abgehauen hatte, wieder angesetzt (Lukas 22,50-51), gemäß seiner
Predigt: „Liebet Eure Feinde“ (Matthäus 5,44).
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- Ein wichtiger Grund, warum die Bibel interpretiert
werden muß, ist die Tatsache, daß ein Wort verschiedene Bedeutungen
haben kann. Das macht beim Übersetzen Probleme. Was stellen Sie sich
z.B. unter einem „Flügel“ vor?
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- Einen Flügel eines Vogels zum Beispiel. Oder die
Tragfläche eines Flugzeuges. Ein Pianist würde sich darunter ein
Klavier vorstellen, und ein Hals-Nasen-Ohrenarzt vielleicht einen
Nasenflügel. Ein Fußballtrainer denkt bei Flügel vielleicht zuerst
an die Seite des Spielfeldes, an der sich gerade der Stürmer mit dem
Ball befindet. Und ein Politiker denkt an den rechten oder den linken
Flügel seiner Partei.
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- Als Beispiel sei die Beschreibung der Bundeslade
gemeint (2.Mose 25,20): „Und die Cherubim sollen ihre Flügel
nach oben ausbreiten, daß sie mit ihren Flügeln den Gnadenthron
bedecken und eines jeden Antlitz gegen das des anderen stehe; und
ihr Antlitz soll zum Gnadenthron gerichtet sein.“
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- Man erkennt, daß hier die Übersetzung mit „Tragfläche“
fehl am Platze wäre. Ein Musiker hingegen, der diese Stelle
leichtfertig übersetzen müßte, könnte ohne Probleme das Wort
„Klavier“ benützen – schließlich machen Engel ja auch Musik!
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- Nun möchte ich noch auf ein Buch der Bibel
eingehen, das man ohne Interpretation überhaupt nicht verstehen kann,
da es in einer ausgesprochenen Bildersprache geschrieben ist: Die
Offenbarung des Johannes. Sie ist das letzte Buch der Bibel und
handelt vom Weltende, das der Seher Johannes nach unterschiedlichen
Theorien etwa 70 - 90 nach Christus in
verschiedenen Visionen prophetisch beschreibt. Sie wird auch
„Apokalypse“ genannt, was nichts anderes als
„Offenbarung, Aufdeckung“ bedeutet. Da die Apokalypse vom
Weltuntergang handelt, wird das Wort „apokalyptisch“ auch oft in
diesem Zusammenhang gebraucht.
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- In der Offenbarung begegnet einem sehr oft das Wort
„Tier“: „Und ich sah ein Tier aus dem Meer steigen, das hatte
zehn Hörner und sieben Häupter und auf seinen Hörnern zehn Kronen
und auf seinen Häuptern
lästerliche Namen.“ (Offenbarung 13,1).
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- Und später (Offenbarung 13, 11-18): „Und ich
sah ein zweites Tier aufsteigen von der Erde, das hatte zwei Hörner
gleich wie ein Lamm und redete wie ein Drache. Und es übt alle Macht
des ersten Tieres vor ihm, und es macht, daß die Erde und die darauf
wohnen , anbeten das erste Tier, dessen tödliche Wunde heil geworden
war. Und es tut große Zeichen, daß es auch macht Feuer vom Himmel
fallen auf die Erde vor den Menschen; und verführt, die auf Erden
wohnen, durch die Zeichen, die ihm gegeben sind, zu tun vor dem Tier;
und sagt denen, die auf Erden wohnen, daß sie ein Bild machen sollen
dem Tier, das die Wunde vom Schwert hatte und lebendig geworden war.
Und es ward ihm gegeben, daß es dem Bilde des Tieres Geist gab, damit
des Tieres Bild redete und machte, daß alle, die nicht des Tieres
Bild anbeteten, getötet wurden. Und
es macht, daß sie allesamt, die Kleinen und Großen, die Reichen und
Armen, die Freien und Knechte, sich ein Malzeichen geben an ihre
rechte Hand oder an ihre Stirn, daß niemand kaufen oder verkaufen
kann, er habe denn das Malzeichen, nämlich den Namen des Tieres oder
die Zahl seines Namens. Hier ist Weisheit! Wer Verstand hat, der überlege
die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl
ist sechshundertsechsundsechzig.“
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- Als ich diese Stelle das erste Mal im
Religionsunterricht der Schule las, habe ich nur eines verstanden:
Bahnhof! Was für ein Tier soll denn bitte zehn Hörner und sieben Häupter
haben? Und was für ein Tier soll Feuer vom Himmel fallen lassen vor
den Menschen? Ich hatte zwar schon etliches von feuerspeienden Drachen
gelesen, die nach Enthauptung eines Kopfes zwei neue bekamen, und so
weiter. Aber das gehörte doch allemal in das Reich der Phantasie. Und
da soll man die Bibel wortwörtlich nehmen! Als halbwegs
naturwissenschaftlich denkender Mensch kann man da doch nur sagen:
Schwachsinn!
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- Doch nach und nach erfuhr ich mehr über die
Offenbarung und setzte sie auch in Beziehung zum Buch Daniel und
anderen Propheten. Und in Daniel 7 ist ebenfalls von seltsamen Tieren
die Rede! So las ich dann in Daniel 7,17: „Diese vier großen
Tiere sind vier Königreiche, die auf Erden kommen werden. Aber die
Heiligen des Höchsten werden das Reich empfangen und werden’s immer
und ewig besitzen.“
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- Und in Daniel 7,24 steht über die Hörner: „Die
zehn Hörner bedeuten zehn Könige, die aus diesem Königreich
hervorgehen werden.“
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- Man sieht also: Ein „Tier“ ist ein (König)reich
bzw. modern übersetzt ein Staat; ein Horn bedeutet, daß daraus ein König
(Herrscher) hervorgeht. Somit sind die Tiere der Offenbarung keine
Dinosaurier à la Jurassic Park sondern Reiche, Staaten, Nationen! Wer
hier die Bibel nicht interpretiert, sondern sie wörtlich nimmt, der
liegt zwangsläufig daneben!
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- Doch warum ist die Offenbarung so kompliziert? Sie
wurde in einer Zeit der Christenverfolgung geschrieben, wohl unter dem
Kaiser Domitian, der sich als der wiedergeborene Nero betrachtete und
ein ausgesprochener Christenhasser war. Sowohl in seinen Namen als
auch in den Namen von Kaiser Nero kann man die Zahl 666 hineindeuten,
wenn man Buchstaben Zahlenwerte zuordnet, wie es im Römischen,
Griechischen und Hebräischen üblich war. Das sind dann aber wieder
willkürliche Interpretationen, man hat auch schon Hitler, den Papst,
Bill Clinton, Saddam Hussein und viele andere mit dieser Zahl in
Verbindung gebracht - zum Teil auf eine Weise, die ich nicht
nachvollziehen kann.
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- Auch die Frage, was es mit dem Feuer vom Himmel und
dem Bild des Tieres auf sich hat, ist Interpretationssache. Das Feuer
vom Himmel könnte z.B. die Atombombe aber natürlich auch etwas
anderes bedeuten. Die erste Atombombe, die in der Wüste von New Mexico
gezündet wurde, hieß übrigens Trinity - Dreieinigkeit! Da „www“ im Hebräischen
eine dreifache 6 bedeutet, denken manche bei dem Bild des Tieres an das
Internet. Allerdings muß man
beachten, daß "www" im Hebräischen nicht die Zahl Sechshundertsechsundsechzig
ausdrückt, da jeweils ein anderer Buchstabe für die 6, die 60 und die
600 verwendet wird!
Es wird schließlich auch niemand getötet, der sich weigert, das
Internet zu nutzen. Doch vielleicht wird dieses Medium in 50 oder 100
Jahren von einem diktatorischen Weltherrscher mißbraucht? Weiterhin heißt es,
daß das Bild des Tieres Geist bekommt. Dies könnte auf künstliche
Intelligenz hindeuten, doch auch das ist spekulativ. Letztendlich können
wir das heute noch nicht absehen, das muß die Zukunft zeigen.
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- In den letzten Versen der Offenbarung verbietet uns
Jesus aufs äußerste, zur Offenbarung etwas hinzuzufügen oder
davonzutun. Daher möchte ich betonen, daß meine Gedanken dazu
lediglich Spekulationen sind und keine Prophetie!
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- Ich bin überzeugt, daß jede Bibelübersetzung
interpretiert werden muß. Ich glaube, daß auch die Originaltexte
Widersprüche haben, die dadurch zu erklären sind, daß sie vor der
Niederschrift über Jahrzehnte oder noch länger mündlich
überliefert wurden. Ich glaube jedoch, daß das, was Jesus wirklich
gesagt hat, widerspruchsfrei war.
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- Martin
Wagner, 2.2.2003, geändert am 26.12.2004, 25.9.2006, 12.10.2006 und
28.5.2007
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